Für Vera Sharav
Diese absurd wirkenden Tage, dieses laute, beinah absurde und doch kreischende Tönen, das aus den Köpfen entweicht. Es quetscht sich aus den Poren und riecht nach Angst, Unsicherheit und Trauer. Dabei kommt kein Laut über die Lippen. Es sprechen die Körper, wie Puppen. Große Augen, dann wieder kleine, weinende und voller Furcht, manchmal auch doch ein lachendes und oft genug spricht ein Irrgarten aus ihnen. Als ob die Furcht sich vor der Angst fürchtet und die Angst sich vor sich selbst. Denn wir irren umher. Wir finden keinen Ausweg mehr, denn es werden immer neue Wege gepflanzt, ohne Aussicht auf einen Ausgang.
Die größte Angst, die tiefsitzende Furcht, der Überlebenden einer Wiederholung, konnten wir all die Jahrzehnte nur erahnen. Aber wer aufmerksam für seine Umwelt war, der sah auch, dass die Geschichts-Schatten sich weiter durch viele Keller bewegten und bei Hitlers samt vernetzter Eugenik nie das Licht ausgegangen war. Die Energie dazu speiste sich aus all dem, was weiter unter den Teppichen klagte. All die Klagen und Anklagen, die man nach dem Krieg schnell und möglichst spurlos drunter kehrte. Die Verfahren, die man behinderte. Das Böse kroch weiter, geisterte immerzu umher, hauchte seinen eisernen Atem aus hohen Ämtern, aus Hörsälen, Schulen, aus Laboren, von so manchen Stühlen in Wirtschaft und Politik, aber auch durch Orte und Gesellschaft. Vera Sharav behielt es all die Jahre im Auge.
Ein Trauma löst sich nicht einfach so in Luft auf. Selbst wenn es, wenn überhaupt im Einzelnen aufgearbeitet würde, bleibt doch das Erlebte, bleibt doch der Schmerz, bleibt das Erleben von Tod und Mord, von Ächtung, Verfolgung, von Bestrafungen und Ausgrenzungen. Es rückt wohl aber in den Hintergrund und verliert an täglicher Präsenz. Wahrscheinlich je nachdem, aus was und warum es entstand. Und es bleibt eine besondere Sensibilität gegenüber den leisesten Veränderungen und die Gefahren, das schleichende Wiederkehren. Das Erlebte kehrt sofort zurück und warnt. Lässt den Fokus auf den Beginn richten.
Wie war das damals, als es sich immer mehr zuspitzte, als Gehorsam gefordert wurde, Kopf- und Körpergleichschritt mit gefälligst passenden Haarschnitt und Uniform zum Statut erklärt wurden und die Medizin sich zum Töten wandte. Rassenwahn, das Leugnen der natürlichen, menschlichen, bunten Entwicklungsgeschichte, als Synagogen abbrannten, Menschen aus den Fenstern geworfen wurden, als Bücher brannten oder Klaviere auf Körper aus den Wohnungen flogen, als andere billig das Gestohlene kauften, oder in den Schulen die Mitschüler verschwanden? Wie war es damals, als Babysachen und Kinderschuhe verramscht wurden, die kurz vorher noch ein deportiertes Kind trug?
Ich gebe Manfred Pawlik vollkommen recht, denn er verweist auch auf den heutigen Sprachgebrauch, der erst recht alle Wunden wieder aufreißt. Wer mit Begriffen wie Sozialschmarotzer, asozial, gesellschaftlich schädlich oder gar davon spricht Menschen auszugrenzen, ihnen die medizinische Versorgung absprechen will, Andersdenkende als Feind propagiert, der damaligen Hass -Sprache ähnliche Worte wie:...macht frei!, zum Diskriminieren aufruft oder ihnen die Lebensgrundlagen nimmt, wer ihnen ihre Rechte nimmt und sie als Material behandelt, ja sie mit absurdesten Ideen kennzeichnen will, der tut das ganz bewusst, oder soll das ein Leugnen unserer Geschichte bedeuten? Und damit auch den Millionen von Toten, den traumatisierten Überlebenden? Den nachfolgenden Generationen haben sich all diese Worte, diese Bilder eingebrannt. Wir tragen keine Schuld, aber wir tragen Verantwortung. Und weil es sich uns eingebrannt hat, manchen bis ins Herz und das Mark hinein, lässt der heutige Zustand des aufkeimenden Hasses, der Zerfall des Miteinander, die immer größer werdenen Gräben auch uns nun keine Ruhe mehr, sind auch wir aufhorchend, und kriecht das Entsetzen durch die Adern. Manche Tage so sehr, dass es uns den Schlaf raubt. Das selbst mit geschlossenen Augen keine Ruhe gefunden werden kann. Diese Wirrnis reißt uns den Boden weg und hält uns das balsamierte Unrecht vor Augen.
Wie also anders, als stetig aufhorchend, beobachtend soll denn erst recht ein Überlebender/eine Überlebende und ihre Nachkommen sein. Und dabei klaffen die Wunden und werden täglich tiefer. Ihr Innerstes kehrt zurück zu: Damals! Und damit zum zutiefst Verletzten der Menschlichkeit und Würde. Was also sollte denn noch erschreckender sein, als Parallelen zu: Damals zu sehen, zu fühlen? Und wer, wenn nicht gerade die Überlebenden, und es waren ja nicht nur jüdische Mitbürger, sondern auch Sinti, Roma, Homosexuelle, Obdachlose, Kranke, politisch Unpassende, Kirchenangehörige oder auch der in geringsten Verdacht Geratene und all die, die ihr Leben lassen mussten für diesen Wahn. Jahrzehntelang haben wir all das gehört, haben beteuert: Nie Wieder! haben geschworen, haben geschrieben, gelesen, gesehen, gefühlt, haben gedacht und auch daran geglaubt, an das Nie Wieder! Aber wir ahnten, wir spürten, wir sahen. Gedenkstätten, Stelen, Mahnmale, Dokumentationszentren, Literaturmuseen in denen sich der Staub erschrocken erhob, sich über die Schriften funkelnd, wie Feuer erhob, um dann wie verwirrt im Sonnenlicht zu Boden fiel. Tafeln lesen Ermordete vor. Lesen sie durch das aufkommende Feuer, dass ihr Innerstes, die Worte verbrennen will. Böll sagte einmal: Worte töten, Worte heilen. Und heute spielt man wieder mit ihnen. Testet aus, benutzt sie und nimmt ihre Mahnung und zerschellt sie. Nimmt ihnen ihre so wichtige Substanz. Wozu Sprache, wenn wir sie doch nicht hören wollen? Wenn man sie in die Keller zwingt.
Wir weinten. Ja, wir weinten, denn wie könnte man nicht darüber weinen, was Menschen anderen Menschen angetan haben? All das, was geschehen war, wie konnte es bloß geschehen? Fassungslos nun über das politische Spiel mit dem Feuer und dass man gerade jene versucht zum Schweigen zu bringen, die die Gefahren sehen und davon sprechen. Ja, ihnen sogar unterstellt, dass, gegen dieses sie sich aussprechen und aufstehen, sie selbst verharmlosen würden. Wie absurd!
Ich kann nur erahnen, was es bedeutet, als Überlebende und Zeitzeugin/Zeuge in diese Wunden zu tauchen. Und ich habe größten Respekt und bin dankbar, dass Menschen, wie Vera Sharav, sagen, was es zu sagen gibt und nicht nur damit in ihre Wunden greift, sondern auch in unsere.
Danke!
Lotta Blau, Sep.2021