Briefe aus Glas
Ich schreib dir Briefe aus Glas. Gedanken aus immer kleiner zersplitterten Scherben. Aus Träumen gefallen und aus den Wolken gefegt. Überall lagen die Splitter. Die Sprachwelt schüttete ihre Trümmer aus. Auf den Straßen, den Dächern, den Gärten, auf und unter den Brücken, an den Fenstern, unter den Kopfkissen, auf den Flügeln der Vögel, vor der Sonne und mit dem Regen kamen sie herab. Manche saßen wie eine alte Weise vor den Türen. Die Menschen gingen an ihnen aus und ein, ohne sie zu bemerken, so still waren sie geworden. Der eine oder andere Splitter flüchtete sich unter die Fußmatte, den Abtreter und wurde noch kleiner. Andere waren so klein zerfallen, dass sie wie Staub von Atem zu Atem huschten. Sich ein Floß durch die Adern formten und in den Herzen Anker warfen und dort die Menschen einen Stich und eine Schwere spürten. Tiefes Seufzen folgte. Allerweltsscherben. Manche Gedanken huschten im Vorübergehen in Blicke oder auf Münder und wurden dann Erinnerung, Begehren, wurden Sehnsucht, gar Liebe. Viele davon flüsterten in Telefone, nisteten sich in den Ohrmuscheln oder rauschten wie ein zarter, warm weicher Wind über bebende Haut voller Zärtlichkeit.
Ich habe einige von ihnen aufgesammelt und wieder zusammengesetzt. Und dann durch die innere Schreibmaschine geschmolzen. Eingeschmolzen und neu geformt. Es hat mir die reale Schreibmaschine beinah zerstört. Jemand hatte sie mir einst angeschleppt, vom Müll. Farbe rot, das Baujahr kann man nicht mehr lesen. Sie stand dann einige Zeit im Keller. Ich brachte es nicht über mich, sie zu entsorgen. Wer weiß, was auf ihr alles schon geschrieben wurde und wem sie gehörte. Ich mochte das Klacken, wenn die Finger die Tasten nach unten drückten. Also behielt ich sie und irgendwann holte ich sie und stellte sie auf meinen Schreibtisch. Neben Fridolin, den geretteten Gummibaum, der im Müll landen sollte. Er hatte nur noch zwei Blätter. Es dauerte einige Zeit, bis er endlich neue bekam. Ich liebe alte Häuser, alte Möbel, alte Holztreppen, alte Ziegelmauern. Mit all den Jahresspuren, dem Abgenutzten. Diese Geschichten, die sie erzählen. Diese Beständigkeit, trotzdem vielleicht schon ein Tischbein angeknackst ist, oder ein Kratzer auf der Lehne, oder ein blinder Fleck auf dem Spiegel entstanden ist. Die alten Ziegelhäuser, deren Steine noch die Wärme speichert. Wenn man sie an einem kühlen Tag, nach einigen warmen, anfasst, dann strömt immer noch die Sonne hindurch. Die manchmal kaputten Ziegel, rot- rostig aussehend, in deren Löcher sich Spinnweben durch Regentage zittern. Es gibt uralte Wörter, die bis heute alles überdauert haben und doch auch splittern. Schwächer werden, andere werden stärker. Sie sind wie die Ziegelhäuser mit ihren Mauern. Und ihre Splitter und Scherben werden Fenster, denen wir ihre Rahmen geben und durch wir sehen, was wir wollen, können, sollen. Manche allerdings sind nicht mehr zu retten. Sie wurden entsorgt.
Entsorgte...ent-sorgte. Keiner sorgte sich mehr um sie. Keine Pflanze hat bei mir einen Namen. Der Gummibaum schon. Er hat sich ihn verdient. Er hat nicht aufgegeben. Beinah tot. Bei-Nah-Tod, die Splitter weigern sich ihrer Fügung. Sie wollen nicht zusammenstehen. Weigern sich zusammenzufinden. Eins zu werden. Wie soll dann Liebe werden, wenn sie Ferne von einander wollen?
Einige Splitter zerrissen jedes Mal wieder das Farbband. Trennstriche setzten sich immer wieder wie von allein zwischen die Laute. Ausrufezeichen, immer wieder, die Markierungen setzten. Gutes Zureden, Bitten, Fluchen, all das nutzte nichts. Zerschelltes hat Risse, hat Ränder. Unförmige, scharfkantige Verweigerungen. Verwirrt zischten sie sich gegenseitig an. Ich versuchte es immer wieder: Lie-ber - Du! Du wunder Glaube, du Wunde! Wun-der-wund-er! Wund-ES! Du wundes Leben, Du! Splitterwachs - Splitter - Wachs zwischen den Geräuschen der Tasten. Es kracht und knackst sich ein Menschenbild heraus. Dann wieder zarte Töne, die Glasmalerei skizzieren. Ein-sam, Zwei-Sam, GemeinSAM. Eigentlich wollt ich dir einen Brief schreiben. Einen ganz gewöhnlichen. Ein Brief aus Glas, aus Scherben gefügt, wird daraus. Mit unzähligen stillen Abgründen dazwischen. Zwischen-Leben, zwischen Menschen, Zwischen-Liebende rieseln die Jahre. Aus allen Glas - Briefen werden einmal Fenster. In sie kann man hinein oder heraus sehen. Die Welt lebt zwischen ihren Rahmen. Du Lieber! Die Welt ist zersprungen, ihre Scherben rieseln aus den Uhrenkästen.
Bild und Text Lotta Blau, 2021