Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Für
Kokon - Menschen

Reflexion

Es gibt sie überall, die Kokon-Menschen. Sie haben schon oft Metamorphosen rückwärts erlebt. Marie war nur eine von vielen. Er war auch einer. Seine Erzählungen aus seiner Kindheit hatten es verraten und wie er sie ansah. Sie spürte Verbundenheit. Es braucht immer den anderen Verstehenden all dieser Wunden. Das gilt auch für die Kunst, Literatur und Musik. So verschieden die Menschen und ihre Leben auch sein mögen, so ähnlich können sich Verletzungen gleichen. Dann kommt dieser Aha-Effekt und nie wieder wird man jenen Menschen oder sein Werk vergessen können. Lesen kann auch eine Flucht sein alles umher zu vergessen und einen Halt zu finden, ebenso, wie das Schreiben das sein kann. Manchmal auch beides. Einen Text in dem man sich selbst erkennt, der wird sich ins Gedächtnis einbrennen.

Wie sich seine Wunden gedanklich in ihre verweben, wie sie sich innig aneinander schmiegen. Dieser Blick, der zwischen ihnen spazieren ging. Zeitlos. Sie erkannte seinen Schmerz, kannte dieses Gefühl unter vielen Menschen zu sein und doch blieb man immer allein. Irgendwie, wie auf einer eigenen Lebenslandkarte spazieren gehend. Jahr um Jahr. Das Gefühl, das Leben bedeutet mehr als dieser kurze Atemzug von Geburt bis zum Tod. Da ist etwas Weites spürbar. Als sie fünfzehn Jahre war hielt sie es nicht mehr aus. Diese Kälte um sie herum. Dieses Abgetrenntsein von Wärme und Mitgefühl. Kokon -Menschen. Alles musste allein durchlebt werden. Ob Schmerz, ob Freude, ob Leid oder Krankheit, Tod, vierzig Fieber und ähnliches. Manches war zu viel, als Kind, als Jugendliche und doch sie lebte ja noch. War einmal fast tot, nach einem Unfall.Sie solle sich nicht so anstellen, sagte  ihre Mutter, als sie aus dem Krankenhaus kam und die Wunde schmerzte.Als ihre geliebte Großmutter starb, da sollte sie nicht weinen. Leben? Der Kokon begann sich zu weben und das Gewöhnen daran.

Er und sie...Gedanklich, zwei Wesen, die sich in all den Jahren ihren Kokon gesponnen hatten. Immer weiter, immer zäher, immer chitinartiger. Schimmernd nach außen und doch undurchlässig. Geöffnet nur selten ins Tiefste der Verletzungen und Verluste hinein. Nur bei den Metamorphosen entstand ein Atemloch. Jene Zeiten, die Hoffnungen, Liebe und Freude brachten, bis diese wieder in die Spiegel blickten und die Täuschungen zeigten und hinter ihren Schatten verschwanden. Er kann mit Zuneigung und Lob nicht umgehen, denn es ist ihm zu nahe. Niemand kann aus einem Jahrzehnte-Kokon entweichen, der aus dem Gefühl des Fremd-Seins entstanden war. Der sich aus den Distanzen gesponnen hatte und diese Distanzen wurden das tägliche Überlebenselixier. Zu viel Nähe konnte leicht ein Gefühl von Flucht auslösen, von ersticken und Stagnation und bedrängt fühlen. Ja, sie kann ihn gut verstehen. Du warst ein Kind und verstehst nicht, warum du um Liebe und Zuneigung betteln musstest und es trotzdem kalt blieb. Warum du fortgeschickt wurdest. Du kannst es noch nicht begreifen. 

Seit diesem Tag schleppten sie ihren Kokon mit sich. Er und sie. Sie können wahrhaft lieben, aber geliebt zu werden ist schwer, denn es erfordert den Kokon zu öffnen. Trotzdem, natürlich versuchten sie es. Manche dieser Kokonmenschen wirken nach außen arrogant. Vielleicht sogar unnahbar. Sie können nichts dafür, es ist der eigene innere Kampf unterm Panzer. Mit sich, gegen sich, mit der Welt, gegen die Welt. Wie soll ein Mensch das alles aushalten? Scheinbare Widersprüche, aber notwendig um sich immer wieder zu sortieren und Klarheit zu erlangen. Nicht nur in Kokon-Menschen geht es so zu, sondern in allen Menschen. Aber gibt es denn überhaupt Menschen ohne Kokon? Es trägt doch jeder Mensch seine Wunden mit sich herum. Vielleicht ist der eine Kokon nur härter, als ein anderer. Manche Kokon-Menschen schaffen sich Fluchten. Manche im Alkohol, manche im Nikotin-Exzess, manche verletzen sich, manche geben sich auf, andere gewöhnen sich ans Kämpfen und Aushalten und werden stärker, andere zerbrechen und bleiben liegen. Erholen sich nie wieder. Andere fallen und stehen auf, bleiben aber betäubt und gehen so durch ihr weiteres Leben. Fünfzehn Jahre war sie, als sie sich betrank und der Kälte und Gleichgültigkeit entfliehen wollte. Niemand interessierte es, niemand stellte Fragen, niemand sah den wachsenden Kokon. Marie stand es allein durch. Sie lernte und wurde stärker. Alkohol seitdem nur noch sehr selten. Sie mag das Gefühl im Kopf nicht, welches durch den Alkohol entsteht. Die Klarheit ist ihr lieber. Ihr Onkel hatte sich mit Alkohol und Tabletten vergiftet, ihr Bruder wurde nach der Trennung von seiner Frau zum Alkoholiker. Er flüchtete sich ins Trinken und schließlich, schon lange dadurch nicht mehr ganz gesund, verschärfte der Alkohol seine Krankheit immer weiter und er starb. Seine Ex-Frau verstarb vorher an Krebs. Nun sind sie, wer weiß wo, wieder vereint. Wer weiß das schon.

Als Kind saß sie gerne auf einer kleinen Mauer, oder verbrachte stundenlang alleine damit zu am Teich im Garten zu sitzen. Vom Steg aus auf die Fische zu sehen, das Schilf im Wind beobachtend oder die alte Weide bestaunend. Heute gibt es den Garten nicht mehr. Der Teich ist ausgetrocknet und die  Mühle in der Nähe wurde umgestaltet. Schon zig Mal schlug dort ein Blitz ein und schon oft wechselten die Besitzer. Damals wohnte dort eine alte Frau. Sie hatte Hühner und einen Hund. Sie trug ein Kopftuch und einen Kittel. Marie dachte an den Misthaufen bei Freunden auf dem Dorf, auf dem eine Hühnerkralle lag. Der Ekel durchfährt sie auch heute noch. In den Ferien war sie ab und an dort. Es gab eine alte Scheune. Dort legte sie sich manchmal in das Stroh und beobachtete das Geschehen unten im Hof.

Das geöffnete Fenster lässt einen Luftzug ins Zimmer hinein, der ihre Haut kurz fröstelnd macht.
Als wären sie widerspenstig gegen diese Berührung, wirbeln sich winzige kleine Partikel mit diesem Gelbfarbenspiel der Sonne durchs Zimmer. Sichtbar ein paar Sekunden weil Licht einfällt.

In diesem Licht bewegen sich diese kleinen Partikel, als kämen sie direkt irgendwo aus dem All. Glitzernd fallen sie langsam hinunter. Staub sind sie und doch viel mehr, als das. Wie oft schon von Winden durch die Welt gewirbelt, wo schon gewesen und wo wieder hin...wer hat ihn schon geatmet und in welchen Leben war er schon daheim, welche Augen hatten ihn schon so gesehen und auf welchen Mündern blieb er ruhend - bis zum nächsten Wort? Ob sich die Menschen darüber bewusst sind, dass sie allein schon durch ihren Atem mit allem Leben da draußen verbunden sind? Egal, wie sehr sich manche auch diesem Gedanken verweigern, es nützt nichts. Egal,wie sehr die Natur ausgeschlossen werden soll, es funktioniert nicht. Auch der Sand von den Meeren bleibt nicht immer an Ort und Stelle, findet den Weg in Häuser, in Haare, auf Möbel. Oder der Sand in den Wüsten...ein einziges Sandkorn, stark vergrößert, gleicht keines dem anderen, genauso, wie keine Schneeflocke einer anderen gleicht. Das ist das Physische, dagegen die Welt nur in jedem Kopf lebt. Dennoch gibt es auch dort eine Koppelung mit all dem Außen.

Vielleicht hatte ihr Blick-Wechsel einen zaghaften winzigen Riss im Kokon verursacht. Jedenfalls ihr tat es gut. Schmerzlos. Er tut ihr gut, weil er auch ihre Wunden beschreibt. Durch all diese im Kokon lebensnotwendige Einsamkeit.

Lotta Blau/Dez.2023