Art und Geschreibsel

von Lotta Blau & Freunden

Der Wolf

Es war einmal ein schon in die Jahre gekommener Wolf. Sein Fell war dünner und grauer in den letzten Jahren geworden. Der Wald, in dem er lebte, lag unweit eines Dorfes. Die Menschen scherten sich nicht um das Tier. Sie ließen ihn in Ruhe. Ohnehin ging der Wolf den Menschen aus dem Weg. Man begegnete sich sehr selten. Der alte Isegrim lebte seine Tage gemächlich. Schlau, wie er war, versuchte er nicht einmal in die Nähe der Menschen und deren Tiere zu gelangen. Als er noch jung war, da beging er einmal diesen Fehler. Der Hunger trieb in damals dazu sich an einen Hühnerstall zu wagen. Das nahm einen üblen Verlauf, denn der Bauer erwischte ihn und schlug ihn windelweich. Schon hatte er seine Flinte geholt und wollte den Wolf töten. Dem aber gelang die Flucht. Das war ihm eine Lehre fürs Leben. Er begnügte sich seitdem mit dem Wild oder ab und an Mäusen.

Eines Tages, er war müde und hatte sich gerade etwas niedergelegt, hörte er Gebrüll und Hundegebell. Er richtete sich auf und lief dem Lärm entgegen. Nicht zu nahe, nur so, damit er sehen konnte, was da vor sich ging. Was er zu sehen bekam, das war ihm nicht gänzlich fremd. Schon einmal hatte er das miterlebt. Damals, als er noch jung war und er sich von der Mutter entfernte.
Viele Menschen mit Gewehren und Hunden schlugen gegen Bäume und Gebüsche, brüllten dabei, manche benutzten Pfeifen. Er dachte, nun jagen sie das Wild. Seltsam, da doch gar keine Zeit dazu war.

Dann hörte er einen Mann zum anderen sagen: Die Bestie müssen wir finden und ihn töten. Ja, sagte der andere, machen wir ihn kalt. Ziehen wir ihm das Fell über die Ohren! Nicht noch einmal wird er unsere Tiere angreifen. Du hast es doch auch gesehen, wie sie zugerichtet waren, nicht? Ja, sagte der andere. Sie haben es ja im Fernsehen gezeigt und in der Zeitung stand es auch. Schreckliche Bilder. Die armen Tiere dort. Sie sagten, das könne nur einer gewesen sein: Der Wolf in unserem Wald. Ich hab es immer gesagt, sagte ein anderer, wir dürfen solche Bestien nicht neben uns dulden. Ausgerottet gehören die! Seht nur, was die Grausames anrichten! Wehrlose Tiere fallen sie an und letztens hörte ich, dass sogar ein kleines Kind von denen verschleppt worden sei. Machen wir sie fertig! Machen wir ihn fertig!

Der Wolf hatte sich direkt wieder aus dem Staub gemacht. Auf seine alten Tage musste er noch ein letztes Mal auf Wanderschaft gehen, durch die Wälder streifen und eine neue Bleibe suchen. Er war sich keiner Schuld bewusst.

Viel später musste man den Irrtum in den Medien eingestehen. Der Vorfall hätte sich anders ereignet, als wie dargestellt. Der Wolf jedenfalls war es nicht, überhaupt kein Wolf war es, auch kein umherstreifender Bär.

Lotta Blau, 05/2022


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